Forschung

Aktion ǀ Retraktion: Tschechoslowakische Kunst und Philosophie im internationalen Kontext, 1945–1989

Hana Gründler

Jiří Kolář, Tafel aus dem Deník, 1968

Die in den letzten Jahren zu beobachtende Tendenz, die eindimensionale, noch immer zutiefst westlich geprägte Geschichte des (Post-)Modernismus infrage zu stellen und unter anderem vermehrt auch osteuropäische Positionen zu berücksichtigen, erweist sich bei näherer Betrachtung als relativ gering ausgeprägt. Dies ist nicht zuletzt auch auf sprachliche und wissenschaftspolitische Hegemonien zurückzuführen. Die Beschäftigung mit der tschechoslowakischen Kunst von 1960 bis 1990 ist hier keine Ausnahme: Obgleich diese eigenständige Kunstrichtungen, aber auch grundlegende Beiträge zu internationalen Bewegungen wie etwa der konkreten Poesie, dem Informel, der Aktionskunst, der Land Art oder dem (experimentellen) Film entwickelte, sind diese Positionen wenig bekannt und werden in der Literatur nur am Rande diskutiert. Auch wird dabei häufig außer Acht gelassen, wie eng die gegenseitige Befruchtung von bildender Kunst, Film, Literatur und Philosophie war und wie intensiv sich trotz aller Widrigkeiten der Austausch mit Positionen aus dem Westen, unter anderem aus Italien, Frankreich und der Bundesrepublik, gestaltete.

Das Bestreben des interdisziplinär ausgerichteten Projekts ist es, sich mit ausgewählten Positionen der nichtkonformen tschechoslowakischen Kunst und Philosophie auseinanderzusetzen und diese in einen internationalen Kontext einzubetten. Leitmotiv ist dabei die Frage, inwiefern Kunst und Philosophie als transformative, disruptive und widerständige Praktiken verstanden wurden. Diese Frage, die auch für die Gegenwart von Bedeutung ist, zieht eine Vielzahl weiterer nach sich: Wie ist das Verhältnis von Kunst, Philosophie, Konflikt und Widerstand einzuschätzen? Welche Veränderungen zieht die Erfahrung der Exklusion und der (inneren und äußeren) Migration für das Philosophieren und Kunstschaffen nach sich? Und nicht zuletzt, wie gestaltet sich die Relation von Rückzug und Aktion, von Untergrund und Kritik am offiziellen Diskurs?

Um das Problemfeld klarer zu definieren, muss zunächst die lebendige und vielfältige Kulturszene der ČSSR, die in den sechziger Jahren eine grundlegende Rolle in der Transformation des politischen Systems gespielt und für ein kritisches Bewusstsein der kommunistischen Gesellschaft gekämpft hatte, genauer in den Blick genommen werden. In einem zweiten Schritt soll untersucht werden, welche Konsequenzen die Phase der sogenannten Normalisierung, die ab 1970 zu einer Wiederherstellung der vor den Reformversuchen Alexander Dubčeks herrschenden politischen Bedingungen führen sollte, für das Kunstschaffen und Philosophieren nach sich zog. Denn in unmittelbarem Anschluss an die Besetzung der Tschechoslowakei durch die Truppen des Warschauer Pakts im August 1968 erlebten Künstler, Schriftsteller und Philosophen mannigfaltige Formen der physischen, psychischen, symbolischen und rechtlichen Ausgrenzung. Diese war implizit auch eine Ausgrenzung aus dem öffentlichen Raum, der strikt vom repressiven offiziellen politischen Apparat kontrolliert wurde.

Im Anschluss daran propagierten viele nichtkonforme Intellektuelle und Künstler, wie etwa Bohumil Hrabal oder Jiří Kovanda, ab den 1970er Jahren eine Form der "Lebenskunst", deren Hauptziel eine Störung der gewöhnlichen Alltagsroutinen und eine Infragestellung der politisierten Wirklichkeit war. So begann etwa Jan Patočka, Untergrundseminare zu geben, in denen er sich nicht nur Konzepten wie Verantwortung, Solidarität und Widerstand widmete, sondern in Auseinandersetzung mit der Antike auch intensiv über die Philosophie als Lebensform nachdachte. Es war ein Versuch, Modelle eines konkreten Philosophierens als Vollzugsform zu erproben. In diesem Zusammenhang schrieb er Kunst und Literatur eine zentrale Rolle zu: Sie eröffneten für ihn nämlich Räume der (Denk-)Freiheit. Wie gezeigt werden soll, lag die delikate Balance von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von Auffallen und Nichtauffallen dabei nicht nur ihm, sondern vielen anderen künstlerischen und philosophischen Positionen zugrunde. Václav Havels Feststellung, dass allzu offensichtliche und plakative Aneignungen des aktuell Politischen keineswegs kritisch sein müssen, sollte vor diesem Hintergrund gelesen werden. Auffallen, so Havel, ist ein strategisches Kalkül – Widerständigkeit findet sich hingegen auch oder gerade im Unauffälligen, in den kleinen Gesten, die sich erst auf den zweiten Blick erschließen und das Gegebene hinterfragen.

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