Sammlung Joseph Beuys

Ein neuer Sammlungsschwerpunkt am Kunsthistorischen Institut in Florenz

Über 500 Werke umfasst die Sammlung zu Joseph Beuys, die die Bibliothek des Kunsthistorischen Instituts in Florenz aus der Privatsammlung von Lucrezia De Domizio Durini erworben hat. Neben Büchern und Bildbänden umfasst die Sammlung auch ungewöhnliche Formate wie Audiokassetten, Postkarten und Pamphlete. Zahlreiche der Werke enthalten persönliche Widmungen, Zeichnungen und Einträge des Künstlers. Im Rahmen dieser Ausstellung präsentiert die Bibliothek ausgewählte Exemplare des Bestands erstmals einer breiten Öffentlichkeit. Dabei setzen sich die Fotografinnen Bärbel Reinhard und Elisa Perretti (Fondazione Studio Marangoni) kreativ mit dem zum Teil sperrigen, in jedem Fall aber unkonventionellen Format der Buch-Objekte auseinander. 

Kein anderes Land in Europa hat bei den Deutschen ein solches Interesse hervorgerufen, eine solche Begeisterung und regelrechte Sehnsucht evoziert wie Italien. Unzählige literarische und bildliche Zeugnisse haben über Jahrhunderte hinweg die oft pilgerhaften Reisen verewigt. Sie schildern häufig in euphorischen Tönen Landschaften, Bau- und Kunstwerke, Menschen, Bräuche, Musik, Kulinarik und vieles mehr. Nicht selten wurden das Land und seine reiche Kultur für die schwärmenden Deutschen zu einem ins Idealtypische entrückten Vorbild. Auch die Gründung des Kunsthistorischen Institutes in Florenz vor gut 120 Jahren vollzog sich im Schatten dieses Ideals, als die „ununterbrochene Fühlung der deutschen Forschung mit der [Renaissance]Kunst Italiens“, „dieser höchsten Schule“, als Voraussetzung für die rechte Beurteilung der eigenen nationalen Kunst „des Nordens“ gefordert wurde. Doch schon eine Generation später, 1927, stellte Wilhelm Waetzoldt, der im selben Jahr den Vorsitz des Trägervereins des Kunsthistorischen Instituts (KHI) übernahm, in seinem den ‚Wandlungen der Italiensehnsucht‘ gewidmeten Buch nüchtern fest, dass das Italien, „von dem die Väter träumten“ nicht mehr existiere, dass es „zu nah gerückt, zu bekannt und zu verwandt“ geworden, dass das „Erlebnis der Italienreise banalisiert“ worden sei. Im Grunde sei die Italiensehnsucht Folge einer Fantasieprojektion gewesen, die man nur noch in historischer Perspektive betrachten könne. Unabhängig von der Bewertung des Phänomens ist die enorme Wirkkraft der Begegnung mit Italien auf zahlreiche Künstler ‚des Nordens‘ eine unbestrittene, weil evidente Tatsache. Waetzoldt beschreibt dies in Gestalt einer historischen Gesamtschau, vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert, und subsumiert, dass keine dieser vielen „Italiendeutungen“ aus der Geschichte der europäischen Kunst wegzudenken und keine die „allein richtige“ sei. Mit anderen Worten: es ging jetzt weniger um persönliche Empfindungen, sondern vielmehr um die Notwendigkeit, den Befund wissenschaftlich einzuordnen. Wenn Waetzoldts Schrift oder zumindest seine Zeit so etwas wie einen Wendepunkt in der Sichtweise manifestiert, so ist damit auch eine Wegmarke in der Geschichte der Bibliothek des KHI benannt, die künstlerischen Wechselbeziehungen, so einseitig sie tendenziell auch gewesen sein mochten, zwischen Deutschland und Italien als kunstgeschichtliches Phänomen und damit als Forschungsgegenstand beim Sammlungsaufbau mit besonderer Aufmerksamkeit zu berücksichtigen. Die in den folgenden Jahrzehnten bis heute zusammengetragenen Titel umfassen mehrere Tausend Bände, zahlreiche Quellenschriften (Reisebeschreibungen) eingeschlossen.

Wenn wir uns nun, nach diesen Vorbemerkungen, Joseph Beuys und der Rolle, die er in der Bibliothek des KHI spielt, zuwenden, dann bedarf es gewiss einiger Erläuterungen. Zunächst gehört Beuys zweifellos zur Gruppe deutscher Künstler, die sich intensiv mit Italien auseinandergesetzt haben. Und auch wenn seine erste Begegnung mit dem Land im kriegerischen Kontext geschah und Beuys 1943/44 zunächst als Wehrmachtsoldat nach Italien kam, verraten seine Briefe, dass die Begeisterung für „dies wunderbare Land“, insbesondere für die Landschaft, die er vor allem als vom Menschen geprägte Kulturlandschaft sah, ganz in der Tradition der zuvor genannten Italienbewunderung steht. Weitaus folgenreicher waren freilich die Begegnungen mit Italien ab den 1960er Jahren, als Beuys bereits als Professor für ‚monumentale Bildhauerei‘ an der Kunstakademie in Düsseldorf lehrte. In dieser Zeit wurde er auch in Italien bekannt, unter anderem dank des Interesses, das seine Kunst bei den Protagonisten der Arte Povera weckte. Seine Freundschaften mit dem Galeristen Lucio Amelio (Neapel) und dem Mäzen Baron Durini und seiner Frau Lucrezia De Domizio (Bolognano), aber auch zum Beispiel mit Bruno Corà und anderen sollten Beuys schließlich künstlerisch, durchaus auch menschlich, eng an den Süden Italiens binden, wie sich in zahlreichen Ausstellungen, (politischen) Aktionen, längeren Aufenthalten und überlieferten Anekdoten nachverfolgen lässt. Damit wären schon genügend Gründe benannt, die eine Berücksichtigung des Künstlers in der Literatursammlung der Bibliothek des KHI als vollkommen konsequent erscheinen lassen. Es kommen aber noch weitere hinzu. Ebenfalls in den 60er Jahren begann man in der Bibliothek zum ersten Mal systematisch Literatur über die Kunst des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, fokussiert auf Italien, zu sammeln. Im Laufe der Jahrzehnte ist auf diese Weise eine auch quantitativ herausragende Abteilung gewachsen, die sich als Grundlage für entsprechende Forschungen versteht. Gewiss ist für die Nachkriegskunst die Konzentration auf eine Nation nicht unbedingt angemessen. Die jüngsten Bemühungen um eine Ausweitung der Perspektive können zwar nur punktuell erfolgen, doch gelang mit der kürzlich geglückten Erwerbung der Privatsammlung von Literatur über Beuys aus dem Besitz von Lucrezia De Domizio Durini (über 500 Werke) ein entscheidender Schritt. Wie kaum ein anderer Künstler verbindet Beuys verschiedene Kunstrichtungen, unterschiedliche Medien sowie zahlreiche Persönlichkeiten und mehrere Nationen. Darüber hinaus haben die von ihm angestoßenen und bis heute nicht verklungenen kontroversen Diskussionen um Grundsatzfragen der Kunst und ihrer Beziehung beispielsweise zur Politik und zur Natur nicht an Relevanz verloren, sondern sie fordern zu immer neuen und perspektivisch veränderten Befragungen heraus. Es ist daher nicht übertrieben, die Beuys-Sammlung im KHI als eine Art Kraftzentrum, zumindest einen neuen Schwerpunkt, zu bezeichnen, in dessen Kontext wir eine intensive und vielfältige Forschungsaktivität erwarten. Dabei spielt auch die Tatsache eine Rolle, dass das Werk und die Person des Künstlers eine außergewöhnliche ikonische Symbiose mit dem Medium der Fotografie eingegangen sind. Angesichts der im KHI verankerten und langfristig angelegten Forschung zur Fotografie in ihren historischen, medialen und materialen Kontexten dürfte der Fall Beuys und die umfangreiche fotografisch-dokumentarische Überlieferung in der Literatur von hohem Interesse sein.

Mit der hier zusammengestellten Auswahl wollen wir einem breiteren Publikum einen ersten Einblick in diese Sammlung ermöglichen. Der Fokus fällt dabei auf physisch-materiell eher außergewöhnliche Bücher und buchartige Objekte, deren Gestalt und Stofflichkeit eine Herausforderung an die fotografische Ablichtung darstellt. Mit Bärbel Reinhard und Elisa Perretti (Fondazione Studio Marangoni) haben wir zwei professionelle Fotografinnen gefunden, die sich der Aufnahme der teils sperrigen, teils die Sinne in unkonventioneller Art anregenden Buch-Objekte mit großem Engagement und Begeisterung annahmen. Ihnen sei für ihren Beitrag an dieser Stelle herzlich gedankt. 

Die einzig revolutionäre Kraft ist die Kraft der menschlichen Kreativität.
(Joseph Beuys)

Joseph Beuys gehört zu den markantesten und bedeutungsvollsten Persönlichkeiten der Kunstgeschichte der Nachkriegszeit. Mit seiner Vita und seinen Werken verkörpert er wie keine andere Figur der zeitgenössischen Kunst der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eine zentrifugale und antitraditionale Kraft, wodurch es ihm gelang, seine eigene Person in Kunst zu kleiden und die Kunst selbst mit seiner Persönlichkeit zu füllen.

Dies geht weit über die stets vitale Idee einer Einheit von Kunst und Leben hinaus; denn Beuys, der sich in das Innere des Kunstwerks versenkte, gedachte, die anthropologische Kraft der Kunst als Ganzes hervorzuheben. In erster Linie war er ein Mensch, der die Menschen sowie die „Mutter Natur“, in der diese leben, liebte.

Zwar hat er kein Verfahren erfunden, jedoch mit großherziger Menschlichkeit sein gesamtes Leben der Suche nach der Verbesserung der innerhalb der Gesellschaft bestehenden Lebensformen gewidmet.

Zwei Konzepte können der Beuys’schen Philosophie zugeordnet werden:

Erstens: Alle Menschen dieser Welt, jeglichen Berufs und jeglicher Tätigkeit, besitzen eine „freie“ und kreative Energie, die, wenn sie freigesetzt wird, einen fruchtbaren Mehrwert sowohl für die eigene Person als auch für die Gesellschaft hervorbringt.

Zweitens: Seine berühmte Living Sculpture, die sich aus Menschen unterschiedlicher Herkunft sowie diverser wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hintergründe zusammensetzt, verbindet diese Menschen, stets im Sinne des Allgemeinwohls, durch solidarische und „freie“ Zusammenarbeit miteinander.

Um seine noble Kunst verständlich zu machen, hat sich Beuys, mehr als jeder andere Künstler dieser Welt, diverser Symbole und Slogans bedient. In diesem Sinne bezeichne ich Beuys als

        Formen- und Seelenbildhauer.

 

Bezugnehmend auf diese meine Definition gilt folgendes: Für seine Soziale Skulptur, die Living Sculpture, hat er sich unsichtbarer Materialien bedient – etwa Gesten, Wörter, Gerüche, Geräusche, Töne, Verhaltensweisen, sogar der Mythologie seiner eigenen Person –, um so schließlich einen Prozess der solidarischen Zusammenarbeit von unterschiedlichen Menschen unter Beachtung der menschlichen Freiheit und Kreativität in Gang zu bringen: Die Einheit in der Vielfalt.

 

        Beuys als FORMENBILDHAUER

 

In seinen Werken hat er auch sichtbare Materialien wie Filz, Fett, Eisen, Pflanzen, Holz, Tiere, Honig, Öl, Stein, Schokolade, Wein und Farben verwendet, die als jene „Substanzen“ oder „Vehikel“ seines Verständnisses von Energie zu interpretieren sind, die dem Leben einen Sinn und ein Ziel verleihen.

Man muss also verstehen, dass die für seine Werke, Aktionen und Diskussionen verwendeten Materialien in keinerlei Zusammenhang mit jenen typischen formalen Mitteln stehen, die von den Künstlern der Arte Povera oder den amerikanischen Minimalisten eingesetzt wurden. Die Materialien, derer sich Beuys in seinen Werken bediente, übersteigen den Prozess der reinen Repräsentation, um den Energiefluss des Menschen in seinem natürlichen und ursprünglichen Sinn darzustellen, den Fluss des Lebens und des Todes, des Menschen und der Gemeinschaftlichkeit, den die Kunst in sich trägt.

An diesem Punkt erscheint es mir notwendig zu präzisieren, was die Fotografie und die Signatur für den deutschen Meister bedeuteten.

Beuys hat als Künstler sehr früh die Wichtigkeit des „Propagierens“ des persönlichen Credos mittels seines eigenen Abbilds verstanden und setzte dazu sämtliche Mittel ein, wie gesagt, selbst seinen Körper und die Mythologie seiner Person.

Der Künstler muss das eigene Werk wie ein Foto sehen, als offenes, unvollendetes Bild
(Joseph Beuys)

Die Fotografie ist ein Mittel, ein Konzept in Erinnerung zu bringen oder es zu versinnbildlichen. Hiervon hat Beuys weiten Gebrauch gemacht, um seiner metaphorischen Sprachweise Ausdruck zu verleihen.

Er genoss es sehr, sich fotografieren zu lassen, als Erweiterung seiner Gedanken, wie auch zu signieren. Er signierte praktisch jedes Objekt, das ihm vorgehalten wurde, war sich dabei aber der Tatsache bewusst, dass dieses Verhalten nach seinem Tod zu einer Mystifizierung oder Doppeldeutigkeit im allgemeinen Kunstverständnis führen könnte. Aus diesem Grund veranlasste er, dass seine Kunstwerke jedes Jahr für Publikationen abfotografiert und katalogisiert wurden, um sie so von seinen zahlreichen Souvenirs abzugrenzen. Demnach gelten ausschließlich die vor seinem frühzeitigen Tod (am 23. Januar 1986) in Publikationen katalogisierten und veröffentlichten Kunstwerke als authentisch , während die anderen lediglich einfache Erinnerungen sind, die als „Souvenir“ bezeichnet werden können und für die zwar das Gesetz von Angebot und Nachfrage gilt, die jedoch nicht dem Kunsthandel bestimmt waren. Obwohl Beuys von unzähligen Personen wie auch von wichtigen Fotografen aufgenommen wurde, sind es die Fotografien von Buby Durini – der die Mikrofotografie für seine wissenschaftlichen Forschungen nutzte – die einen menschlichen und philologischen Sinngehalt innehaben, da er 15 Jahre lang in zahlreichen Ländern dieser Welt an Beuys’ Seite war: Sie sind einmalige historische Zeugnisse.

Im Laufe der Jahre habe ich eine reich bestückte Bibliothek mit Büchern über Beuys, die in vielen Sprachen und von unterschiedlichen Herausgebern publiziert worden sind, zusammengetragen. In den Ländern, in denen ich mich aufhielt, begab ich mich stets auf die Suche nach weiteren Büchern, die ich kaufte oder die mir von Freunden geschenkt wurden. Auch Beuys, der von meiner Sammlung wusste, schenkte mir viele Bücher mit einer Widmung an mich und meinen Mann und auch einige seltene hektographierte Publikationen.

Über die Jahre habe ich über 1000 Bände gesammelt, sie katalogisiert und –zusammen mit den 33 von mir edierten, teilweise ins Englische und Deutsche übersetzten und in unterschiedlichen Verlagen erschienen Büchern – sorgfältig in einem großen Glasschrank aufbewahrt.

Eines Tages hatte ich ein seltsames Gefühl beim Anblick der großen Vitrine … die Bücher waren wundervoll … doch waren sie Stumm! Also kam mir der Gedanke, sie einer italienischen Bibliothek anzubieten, damit sie ihren Sinn erfüllen könnten. Durch die Arbeit an einem besonderen Fotoband über Beuys’ Operation Difesa della Natura (Foto © BubyDurini) kannte ich Andrea Tomasetig, einen der renommiertesten Antiquare Italiens, und bat diesen, italienische Bibliotheken aufzusuchen und ihnen die detailliert aufgelisteten Bücher anzubieten. Für Tomasetig bedeutete dies ein Jahr intensive Arbeit, in dem er über 50 Bibliotheken mit negativem Ergebnis konsultierte. Also schlug ich ihm vor, die bedeutendste deutsche Bibliothek in Italien zu kontaktieren, welche das Angebot umgehend annahm. Und so wurde vereinbart, dass meine Sammlung an Herrn Dr. Jan Simane, Direktor der Bibliothek des Kunsthistorischen Instituts in Florenz – Max-Planck-Institut, geschickt würde.

Jedes Mal, wenn ein Buch seinen Besitzer wechselt, jedes Mal, wenn ein neuer Blick die Seiten streift, gewinnt sein Geist an Stärke.
Carlos Ruiz Zafón

Wie kein anderer Künstler konnte und wollte es Joseph Beuys, die Überwindung der Kunst zu verkörpern, indem er die eigenen Kräfte in Richtung der utopischen Sphäre der natürlichen Energie und der spirituellen Kommunikation lenkte: Die Realität als phänomenologisches Spektrum der menschlichen Möglichkeiten.

Joseph Beuys’ Kunst lässt noch immer Raum, weiter vertieft, gelesen und studiert zu werden.

        Lucrezia De Domizio Durini – Bolognano und Paris im Mai 2021

Nach dem wirtschaftlichen Aufschwung herrschte seit Mitte der 1960er Jahre in Europa wieder reges Interesse am Austausch zeitgenössischer Phänomene des Kunstgeschehens, die sich von den malerischen, expressiven und konsumorientierten Positionen Amerikas distanzieren wollten. Zu den zentralen Figuren zählte in Deutschland Joseph Beuys. Und auch wenn er lange als ungemütliche und exzentrische Figur mit teils utopischen Vorstellungen galt, kann aus heutiger Sicht festgehalten werden, dass seine Positionen zur Rolle des Künstlers in der Gesellschaft, zur Erweiterung politischer und ökologischer Sichtweisen wie zur Verknüpfung von Kunst und Wissenschaft noch immer von großer Aktualität sind. Die Ideen und Theorien, die er von seiner Atelierwohnung in Düsseldorf und der anfänglichen Lehrtätigkeit an der Akademie immer in direktem Kontakt mit dem Menschen, sowohl den Studenten als auch dem breiten Publikum, vorantrieb, verbreiteten sich zunächst in Europa, ab Mitte der 1970er Jahre auch in den USA. Italien aber zählte gewiss zu den Ländern, man könnte sogar sagen zu dem Land, in dem Beuys von 1971 bis zu seinem Tod – neben Deutschland – fruchtbarsten Boden für seine künstlerisch-revolutionären Aussagen und Aktivitäten gefunden hat. Das mag verschiedene Gründe gehabt haben. Zum einen die kulturelle Faszination, die seit der Renaissance Künstler und Intellektuelle aus dem Norden in das ‚Land der Sonne und Zitronen‘ gezogen hat und für einen innigen Austausch zwischen Deutschland und Italien sorgte. Man denke an die bekannten „Vorgänger“ und Italienreisenden wie Albrecht Dürer und Johann Wolfgang von Goethe. Ein weiterer Grund war gewiss sein erster prägender Aufenthalt während des Zweiten Weltkrieges, als er Anfang 1943 für einige Monate als Soldat in Foggia in Apulien stationiert war. [i] Ihn begeisterten Landschaft und Kultur so, dass er hier als 22-jähriger den Entschluss gefasst habe, Künstler zu werden, wie es aus Briefen an die Eltern hervorgeht. [ii] Dritter und zentralster Aspekt aber war die einsetzende intensive internationale Zusammenarbeit von Joseph Beuys mit Galeristen, Kritikern und Sammlern, die ihm seit 1971 auch den Weg in die italienische Kunstszene bereiteten. [iii] Wegweisend war die von Klaus Staeck im September 1971 in Heidelberg organisierte Tagung zur Zukunft des internationalen Kunstmarkts, zu der rund 30 Personen geladen waren. Hier kommt es zum ersten Zusammentreffen von Beuys mit dem italienischen Galeristen Lucio Amelio, dem Kritiker Germano Celant und den Künstlern Mario Merz sowie Jannis Kounellis. [iv] Die direkte Folge war der Besuch Amelios in Beuys’ Düsseldorfer Atelier und seine Einladung nach Neapel und in dessen Ferienvilla auf Capri. Lucio Amelio wurde zu seinem ständigen Begleiter und Übersetzer. [v] Während des Aufenthalts auf Capri im Herbst 1971 planten sie dann Beuys’ erste Ausstellungsreihe für Italien, die sog. „Neapolitanische Tetralogie“ (1971 bis 1985). [vi] Zur Eröffnung in der Galerie Modern Art Agency in Neapel waren im November 1971 auch Jannis Kounellis und Mario Merz gekommen. [vii] Diese beiden bedeutenden Vertreter der 1969 gegründeten italienischen Arte povera sind auch wegweisend für einen künstlerischen Austausch, der eindeutige Parallelen, aber auch kulturell bedingte Unterschiede zum Werk von Beuys deutlich werden lässt. [viii] Zur zweiten Eröffnung im Oktober 1972 in Rom „waren alle gekommen“, so Jannis Kounellis. [ix] Neben Lucio Amelio und den Kritikern Achille Bonito Oliva und Germano Celant, zählte dann auch Lucrezia De Domizio Durini und Buby Durini zu den zentralen Personen, die Beuys in Italien ein Forum für seine zahlreichen künstlerischen und politischen Aktionen geschaffen haben. [x] Hinzu kam die seit 1973 gegründete FIU (Freie Internationale Universität), die seit 1979 auch in Italien Präsenz zeigte (mit Vertretungen in Turin, Pescara, Rom und Palermo). Beuys fand also aufgeschlossene Mitstreiter und Förderer, die seinen erweiterten Kunstbegriff und das damit verbundene umweltpolitische Engagement intensiv vorantrieben (Difesa della Natura, Olivestone, etc.).

Das Konzept der Sozialen Plastik von Beuys ist wegweisend geworden für das Hineinwirken künstlerischer Konzepte in das Leben jedes Einzelnen, in die Herausforderungen zur Bewahrung von Natur und Umwelt. Jeder hat die Kraft zur eigenen und zur gesellschaftlichen Veränderung, denn „La rivoluzione siamo Noi“ (1971). Entscheidend ist das Wollen. Dass Beuys nun anlässlich der Feierlichkeiten zu seinem 100. Geburtstag auch in Italien groß gefeiert wird und u. a. auf der Titelseite des Giornale dell’Arte (ed. März 2021) erscheint und mit Mario Draghi verglichen wird („Draghi come Beuys“), ist daher ein positives und hoffnungsvolles Zeichen, dass der Kunst in der Politik wieder mehr Gewicht verliehen werden könnte.


[i] Vermutlich seit Februar/März bis Juni 1943. Beuys beschreibt seine Erlebnisse rückblickend als Einblick in den „Geist und [die] Kultur Italiens, der gegen den Schrecken des Krieges gestellt war“. In: Germano Celant: Beuys. Tracce in Italia, Ed. Amelio, Neapel 1978, S. 67. Es entstanden zahlreiche Werke, Zeichnungen und Skizzen zu Foggia und der Landschaft der Umgebung, wie zum Monte Gargano.
[ii] Beuys will „nach dem Krieg den Bildhauerberuf erlernen“, in: Joseph Beuys. Das Geheimnis der Knospe zarter Hülle. Texte von 1941-1986, hrsg. von Eva Beuys, München 2000, S. 269-271.
[iii] Ende der 1960er Jahre gab es neben der documenta 4 weitere wichtige Ausstellungen im europäischen Raum, die den aktuellen Phänomenen nachspürten. Auf der Prospect '68 in Düsseldorf, auf der von Harald Szeemann kuratierten Ausstellung Live in your head: When Attitudes become Form in Bern oder auf der Ausstellung Op Losse Schroeven in Amsterdam (beide 1969) kursierten neben Arte povera unterschiedlichste Begriffe wie Conceptual Art, Earth-Works, Process Art, Anti-Form oder Land Art. Die Künstler der Arte povera und Joseph Beuys waren auf all diesen Veranstaltungen präsent.
[iv] Ausführlicher zum Treffen vgl. Tracce in Italia, S. 8-9.
[v] Amelio sprach fließend Deutsch, Englisch und Französisch. Deutsch lernte er während eines längeren Aufenthalts in der ehemaligen DDR. Beuys sprach nur Englisch, seine italienischen Sprachkenntnisse (aus Kriegszeiten in Foggia) waren sehr bescheiden; vgl. Bernd Klüser im Gespräch mit der Autorin, München, 18.9.2006.
[vi] Eine Auflistung der Aktivitäten findet sich im Interview mit Lucio Amelio in: Joseph Beuys. Arena – wo wäre ich hingekommen, wenn ich intelligent gewesen wäre!, hrsg. von Lynne Cooke u. Karin Kelley, Ostfildern bei Stuttgart 1994, S. 34-51. Achille Bonito Oliva führte auf Capri das erste Interview mit Beuys in Italien. Es erschien im Dezember 1971 in der Zeitschrift Domus unter dem Titel Partitura di Joseph Beuys, la rivoluzione siamo noi.
[vii] Beuys reiste mit dem Zug an und trug einen Luchsfellmantel, den er 1969 in der Aktion „Iphigenie/Titus Andronicus“ getragen hatte. Der Titel war von Goethes Iphigenie auf Tauris inspiriert, das Letzterer während seiner Italienriese in Versform umgesetzt hatte. Beuys’ persönliche ‚Italienische Reise‘ nahm seinen Lauf.
[viii] Zu den Parallelen im Werk von Joseph Beuys und einiger Vertreter der Arte povera vgl. Carolin Angerbauer: Joseph Beuys und die Arte povera. Materialität und Medialität, München 2015 (Publikation zum Dissertationsprojekt, gefördert vom Deutschen Akademischen Austauschaus Dienst und vom Kunsthistorischen Institut in Florenz – Max-Planck-Institut).
[ix] Jannis Kounellis im Gespräch mit der Autorin, Niccone, 17.3.2009.
[x] Das 1978 herausgegebene Katalogbuch „Beuys. Tracce in Italia“ (1978), an dem Beuys selbst mitgearbeitet hat, sollte für den Zeitraum bis 1977 das wichtigste Werk für die vollständige Aufzeichnung und Chronologie seiner Aktivitäten in Italien werden.

Axel Hinrich Murken, Joseph Beuys und die Medizin, Münster 1979.

Axel Hinrich Murken, Joseph Beuys und die Medizin, Münster 1979.

Lucrezia De Domizio Durini (ed.), Paraxo 92, Andora 1992.

Lucrezia De Domizio Durini (ed.), Paraxo 92, Andora 1992.

Abendunterhaltung, Ein Gespräch zwischen Joseph Beuys, Hamburger Journalisten und Wissenschaftlern am 5. März 1977, Achberg 1977.

A concert at the ICA, Joseph Beuys & Albrecht D., 1.11.1974, Stuttgart 1974.

Ken-ichi Kinokuni (ed.), Joseph Beuys, Ausstellungskatalog, Tokyo 1984.

Joseph Beuys, Zeichnungen von 1946-1971, Ausstellungskatalog, Düsseldorf 1971.

24 Stunden, Happening am 5. Juni 1965 von 0-24 Uhr in der Galerie Parnass Wuppertal, Moltkestraße 67, Itzehoe-Voßkate 1965.

Joseph Beuys: das Wirtschaftswertprinzip, PRINZIP 2 Mensch 20.6.1980, Gent 1980.

Writing as sculpture, Towards a new human individual, Report on the meeting of Joseph Beuys with His Holiness the Dalai Lama of Tibet in Bonn, Germany, on 27 October 1982, Amsterdam 1983.

Writing as sculpture, Towards a new human individual, Report on the meeting of Joseph Beuys with His Holiness the Dalai Lama of Tibet in Bonn, Germany, on 27 October 1982, Amsterdam 1983.

»to Lucrezia from Joseph Beuys«

Joseph Beuys, Die Leute sind ganz prima in Foggia, Neapel 1973.

»for my very good friends Buby Durini and Lucrezia de Domizio
Joseph Beuys
Basel 1974«

Peter van Beveren (ed.), Beuys yn Fryslân, Schiedam 2003.

Peter van Beveren (ed.), Beuys yn Fryslân, Schiedam 2003.

Peter van Beveren (ed.), Beuys yn Fryslân, Schiedam 2003.

Joseph Beuys, Zeichnungen von 1949-1969, Ausstellungskatalog, Düsseldorf 1969.

Joseph Beuys, Zeichnungen von 1949-1969, Ausstellungskatalog, Düsseldorf 1969.

Joseph Beuys und Nam June Paik, Beuys 1984.5.29-6.5., Ausstellungskatalog, Tokyo 1984.

Patrick Healy (ed.), Joseph Beuys/Waldo Bien, Social sculpture basics, Ms Regal Star, Amsterdam 1983, Centre George Pompidou Paris 1984.

Patrick Healy (ed.), Joseph Beuys/Waldo Bien, Social sculpture basics, Ms Regal Star, Amsterdam 1983, Centre George Pompidou Paris 1984.

Soziale Plastik, Materialien zu Joseph Beuys, Achberg 1976.

Simon Rendall (ed.), Joseph Beuys: drawings, Ausstellungskatalog, London 1983.

Simon Rendall (ed.), Joseph Beuys: drawings, Ausstellungskatalog, London 1983.

 

Fotografie: Bärbel Reinhard, Elisa Perretti (Fondazione Studio Marangoni)
Konzept: Jan Simane, Verena Gebhard, Lisa Hanstein
Koordination:  Verena Gebhard, Lisa Hanstein, Rafael Ugarte Chacón
Texte: Jan Simane, Lucrezia De Domizio Durini, Carolin Angerbauer

 

 

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