Symptomatik des Zeichnens und Schreibens (Materialprobe 2)
Kolloquium der institutsübergreifenden Forschungsinitiative "Wissen im Entwurf. Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Forschung"
"Materialprobe" bezeichnet eine Serie von Kolloquien, die die Forschergruppe gemeinsam mit den Mitgliedern des Netzwerkes an wechselnden Orten durchführt. Im Mittelpunkt dieser Arbeitstreffen stehen Präsentationen von Fallstudien aus dem Zusammenhang der Forschungsinitiative, die exemplarisch und materialnah jeweils ein Feld oder einen Modus des forschenden Schreibens und Zeichnens untersuchen. Die "Materialproben" bieten die Gelegenheit unterschiedliche Herangehensweisen an das Material vorzustellen, und gemeinsam die methodische Erschließung und theoretische Gegenständlichkeit von "paper tools" zu diskutieren.
Unsere zweite "Materialprobe" soll einem besonders signifikanten Sonderfall des Zeichnens und Schreibens als Verfahren der Forschung gelten: der Experimentalisierung und Auslegung von Schrift und Zeichnung als Symptome psychischer und physiologischer Funktionen und Dysfunktionen. Dabei wird der Blick auf die Besonderheit von Aufschreibepraktiken zu richten sein, die nicht nur eine Aufzeichnung bestimmter Phänomene beabsichtigen (darin sind sie herkömmlichen Zeichen-/Schreibverfahren ja verwandt), sondern gleichzeitig auf eine Analyse der Repräsentation selbst abzielen. Damit rücken genau jene Eigenschaften in den Mittelpunkt des Interesses, die im Rahmen herkömmlicher wissenschaftlicher Datensicherung zumeist eingeschränkt und kontrolliert, spätestens aber im Vorgang der Publikation und der Übersetzung in den gedruckten Text oder die druckgraphisch reproduzierte Zeichnung ausgesondert werden, weil sie der Aufzeichnung des eigentlichen Phänomens akzidentiell, eben subjektiv zukamen.
Sicherlich: nicht jedem graphischen Unfall wird die Deutungshoheit eines Symptoms zugestanden. Und nur mit einigem Aufwand gelingt die Transformation der auffällig gewordenen Inskriptionen in eine Spur, ein lesbares Zeichen von Charakter, Temperament, Autorschaft, Entwicklung oder was auch immer. Der - im weitesten Sinn - graphologische Zugriff auf die von Hand erzeugten Linien arbeitet gegen die Kontingenz des Hingeschriebenen und Gekritzelten, gegen die Undurchschaubarkeit der Entstehungsbedingungen und des spurenerzeugenden Systems (des Kindes, Künstlers, Autors etc.). Zur Bewältigung dieser unhintergehbaren Kontingenz suchten Graphologen, Psychologen und Editionsphilologen nach Kriterien, um eine Unterscheidung der zufälligen von den motivierten Symptomen vornehmen zu können. Die Techniken, die im Laufe der letzten 200 Jahre dazu ausgebildet wurden, kommen zumeist erst ins Spiel, wenn der eigentliche Schreib-/Zeichenakt bereits stattgefunden hat. Sie nehmen die Gesten des Zeichnens und Schreibens von der "Warte der Nachträglichkeit in den Blick" (Stephan Kammer).
Eine graphische Aufzeichnung als Symptom einer physischen oder psychischen Befindlichkeit zu lesen, setzt aber nicht nur eine Umstrukturierung der Erwartung, des Blicks und der Lektürepraxis voraus, sie ist an konkrete Veränderungen der Schreib- und Zeichenszene gebunden, die wir im Rahmen der zweiten "Materialprobe" analysieren möchten: Unter welchen institutionellen, medialen und materiellen Bedingungen entstehen Linien, Kritzeleien und Schriftzüge, die sich dem Forscher oder dem Kunstbetrachter nicht als Beschreibungen der Welt, sondern als verworrene Zeichen der seelischen/physischen Funktionstüchtigkeit, Disposition oder Pathologie ihrer Urheber zu denken geben? Wie wurden die Relikte der vermeintlichen Selbstaufschreibung im wissenschaftlichen Forschungszusammenhang/im künstlerischen Produktionsprozess gewonnen und prozessiert? Wie wurden sie lesbar gemacht? Und schließlich: welche Vorstellungen und Begrifflichkeiten von "Spur", "Symptom" und "Ausdruck" kommen dabei zum Tragen?
Um schriftliche Anmeldung per E-Mail wird gebeten: Dr. Barbara Wittmann, wittmann@mpiwg-berlin.mpg.de
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